Mittwoch, 19. April 2023

Ausübung des VVG–Widerspruchsrechts als Verstoß gegen Treu und Glauben

Prof. Dr. Hervé Edelmann, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Thümmel, Schütze & Partner, Stuttgart/WissMit. Carla Löchel 

Der Bundesgerichtshof hatte sich damit auseinanderzusetzen, ob die unrichtige Information in der Belehrung über die Form des zu erklärenden Widerspruchs (Vorgabe der Schriftform anstelle der ausreichenden Textform) geeignet ist, dem Versicherungsnehmer ein dauerhaftes Widerspruchsrecht einzuräumen.

In seiner Entscheidung vom 15.02.2023, IV ZR 353/21 (WM 2023, 555 ff. ) gelangt der Bundesgerichtshof zum Ergebnis, dass die Ausübung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a. F. in der Fassung vom 13.07.2001 gegen die Grundsätze von Treu und Glauben gemäß § 242 dann verstößt, wenn – wie im konkreten Fall – ein geringfügiger Belehrungsmangel vorliegt, durch den dem Versicherungsnehmer nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (Rn. 13–16).

Nach Auffassung des IV. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs stehe seine diesbezügliche Rechtsauffassung nicht in Widerspruch zur Entscheidung des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 12.07.2016 (BGH 211, 123 Rn. 1, 40 f.), wonach es bei der Frage, ob Verwirkung anzunehmen ist, nicht darauf ankommt, wie gewichtig der Fehler ist, der zur Wirkungslosigkeit der Widerrufsbelehrung führt (Rn. 17). Zum einen sei das Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehensverträgen mit dem Widerspruchsrecht nach § 5 a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. nicht vergleichbar. Hierbei handelt es sich vielmehr um unterschiedliche Rechte in unterschiedlichen Vertragskonstellationen (Rn. 18). Zudem ginge es im konkreten Fall um die Anwendung des aus § 242 BGB hergeleiteten Übermaßverbots dergestalt, dass die Einräumung eines Vertragslösungsrecht unverhältnismäßig wäre, wenn dem Versicherungsnehmer durch die fehlerhafte Belehrung nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (Rn. 18). Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs stünde die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Ausübung des Widerrufsrechts in dem Fall, dass dem Versicherungsnehmer durch den Belehrungsfehler nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, auch im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH, weswegen eine Vorlage an diesen nicht veranlasst ist (Rn. 23 ff.). 

Etwas anderes ergäbe sich nach Auffassung des Bundesgerichtshofs auch nicht aus den Ausführungen des EuGH zum unionsrechtlichen Grundsatz des Rechtsmissbrauchs in dessen Entscheidung vom 09.09.2021 (WM 2021, 1986). Dies deshalb, weil sie allein zur Verbraucherrechterichtlinie ergangen ist und zudem, anders als im konkreten Fall, einen nicht ordnungsgemäß belehrten Verbraucher betroffen hat (Rn. 30). Zudem Folge aus der Entscheidung des EuGH für den Bereich der Lebensversicherungen, dass es auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts zum Rechtsmissbrauch und dessen Voraussetzungen nicht ankomme, sondern ein Rückgriff auf den nationalen Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB im Bereich der Lebensversicherungsrichtlinie zulässig ist, soweit die praktische Wirksamkeit der Richtlinie nicht beeinträchtigt ist (Rn. 31–33), was in der konkreten Konstellation nicht der Fall war.

Hiervon unabhängig würde die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben angesichts der besonderen Umstände des streitgegenständlichen konkreten Falles die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigen und zudem dem Sinn und Zweck des Widerspruchsrechts nicht widersprechen (Rn. 36–38).

Insgesamt gelangt der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zum Ergebnis, dass die Einschränkung des Widerspruchsrecht im Lebensversicherungsbereich durch die Heranziehung der Grundsätze von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB nicht nur mit dem nationalen, sondern auch mit dem europäischen Recht vereinbar ist.

 

PRAXISTIPP

Auch wenn sich der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in seiner vorstehenden Entscheidung sehr darum bemüht darzulegen, dass die Einschränkung des Widerspruchsrecht durch die Grundsätze von Treu und Glauben im Bereich der Lebensversicherungen anders zu beurteilen und zu bewerten ist als im Bereich des Verbraucherdarlehensrecht, erscheint dies aus hiesiger Sicht zweifelhaft. Denn der vom Bundesgerichtshof aufgestellte Grundsatz, wonach ein Berufen auf die Grundsätze von Treu und Glauben dann möglich sein muss, wenn dem Verbraucher durch den geringfügigen Belehrungsfehler nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchs-/Widerrufsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, sowohl im Verbraucherdarlehensrecht als auch im Lebensversicherungsbereich gleichermaßen Geltung entfaltet. Denn für die Annahme eines Verstoßes gegen Treu und Glauben ist es nach hiesiger Sicht der Dinge irrelevant, ob ein Lebensversicherungsvertrag oder ein Darlehensvertrag betroffen ist.


Beitragsnummer: 22112

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