Dienstag, 20. Februar 2024

Untergang deutscher Verjährungsregelungen

Prof. Dr. Hervé Edelmann, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Thümmel, Schütze & Partner, Stuttgart

 

In seiner Entscheidung vom 25.01.2024, C-810/21, 811/21 und 812/21, BeckRS 2024, 531, weist der EuGH zunächst daraufhin, dass die zehnjährige spanische Verjährungsfrist nur dann mit dem europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist, wenn der Verbraucher die Möglichkeit hatte, von seinen Rechten Kenntnis zu nehmen, bevor diese Frist zu laufen beginnt oder abgelaufen ist (Rn. 48). In diesem Zusammenhang hebt der EuGH hervor, dass eine Verjährungsfrist nicht schon dann mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist, wenn sie vorsieht, dass der Verbraucher Kenntnis von den die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel begründenden Umständen hat, ohne dass es darauf ankäme, ob er seine Rechte aus der Richtlinie 93/13 kennt und ob er ausreichend Zeit hat, um tatsächlich einen Rechtsbehelf zur Geltendmachung dieser Rechte vorzubereiten und einzulegen (Rn. 50). Nachdem das spanische Recht wiederum ebenso wie das deutsche Recht für den Beginn des Laufs der Verjährung lediglich voraussetzt, dass der Verbraucher Kenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen hat und nicht auch von deren rechtlichen Beurteilung und damit nicht auch Kenntnis von seinen Rechten hat, die ihm die Richtlinie verleiht (Rn. 49), gelangt der EuGH zum Ergebnis, dass die spanische Verjährungsregelung mit dem Effektivitätsgrundsatz nicht zu vereinbaren ist (Rn. 51).

Hieran anschließend setzt sich der EuGH mit der Folgefrage auseinander, ob eine gefestigte nationale Rechtsprechung zur Missbräuchlichkeit/Nichtigkeit der betroffenen Klausel vorstehende von ihm geforderte Kenntnis des Verbrauchers von der Missbräuchlichkeit der Klausel zu begründen vermag (Rn. 56 ff.). Unter Hinweis auf die Informationsasymmetrie sowie unter Berufung darauf, dass von einem Verbraucher nicht erwartet werden kann, dass er sich über eine gefestigte nationale Rechtsprechung zur Nichtigkeit der ihn betreffenden Klausel informiert, gelangt der EuGH zum weiteren Ergebnis, dass das Bestehen einer gefestigten nationalen Rechtsprechung zur Nichtigkeit einer Klausel nicht als Nachweis für die Kenntnis des betroffenen Verbrauchers von der Missbräuchlichkeit dieser Klausel und den sich daraus ergebenden Rechtsfolgen genügt (Rn. 61). In diesem Zusammenhang führt der EuGH unter Hinweis auf seine Entscheidung vom 13.07.2023, C-35/22, BeckRS 2023, 16920 Rn. 32 ff. noch aus, dass – anders als bei einem Verbraucher – von Kreditinstituten erwartet werden kann, dass sie sich über die Rechtsprechung in Bezug auf die Missbräuchlichkeit der sie betreffenden Klauseln informieren und hieran anschließend die Initiative ergreifen und auf diejenigen ihrer Kunden zugehen, deren Verträge von solchen Klauseln betroffen sind, und entsprechend handeln (Rn. 58).


PRAXISTIPP

Nimmt man die Entscheidung des EuGH ernst, dann dürfte die dreijährige deutsche kenntnisabhängige Grundsatzverjährung i. S. v. §§ 195, 199 Abs. 1 BGB gegen den europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz verstoßen. Dies deshalb, weil sowohl nach dem Wortlaut des § 199 Abs. 1 BGB als auch nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Beginn der dreijährigen kenntnisabhängigen Verjährung – wie im spanischen Recht auch – lediglich voraussetzt, dass der Verbraucher Kenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen hat und nicht auch von der rechtlichen Würdigung dahingehend, dass die Klausel unwirksam ist und ihm, dem Verbraucher, hieraus Rechte/Ansprüche zustehen. Auch der Beginn des Laufs der Frist bei der zehnjährigen kenntnisunabhängigen Verjährung nach § 199 Abs. 4 BGB setzt nicht die rechtliche Würdigung der Umstände in dem Sinne voraus, dass der Verbraucher Kenntnis von der Unwirksamkeit/Missbräuchlichkeit der Klausel hat, weswegen auch diese Verjährungsregelung mit dem europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz unvereinbar sein dürfte.

Nach der deutschen Regelung des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB beginnt die dreijährige kenntnisabhängige Verjährung bereits dann an zu laufen, wenn der Verbraucher grob fahrlässige Unkenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen hat. Von einer solchen grob fahrlässigen Unkenntnis i. S. v. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB ist nach den Rechtsprechungsgrundsätzen bereits dann auszugehen, wenn der Verbraucher, obwohl er sich in zumutbarer Weise und ohne nennenswerte Mühe die entsprechende Kenntnis beschaffen könnte, solche auf der Hand liegenden Erkenntnismöglichkeiten nicht ausnutzt oder sich solchen Erkenntnismöglichkeit verschließt. Nutzt daher ein Verbraucher die sich ihm zur Verfügung stehenden medialen Informationsquellen nicht aus, sondern verschließt er sich solchen Erkenntnismöglichkeiten, aus welchen er die Kenntnis hinsichtlich der Nichtigkeit/Unwirksamkeit der ihn betreffenden Klausel hätte erlangen können, dann ist grundsätzlich von einer grob fahrlässigen Unkenntnis des Verbrauchers auszugehen (vgl. hierzu Ellenberger, in: Grüneberg, BGB-Komm. 82. Aufl. 2023, § 199 Rn. 39 f.).

Auf diese die Verjährung zum Laufen bringende grob fahrlässige Unkenntnis des Verbrauchers z. B. von einer gefestigten Rechtsprechung soll es anscheinend nach den vom EuGH aufgestellten und vorstehend wiedergegebenen Grundsätze nicht mehr ankommen mit der Konsequenz, dass der von einer unwirksamen Klausel betroffene Verbraucher sich nicht mehr anhand aktueller Medien oder sonstiger Informationsquellen Informationen darüber verschaffen muss, ob die ihn betreffende Klausel von der Rechtsprechung bereits offenkundig als unwirksam angesehen wird/wurde. Insofern könnte sich der Verbraucher nach vorstehender EuGH-Entscheidung „blind und taub" entspannt zurücklehnen, die Augen vor dem Offenkundigen verschließen und nichts tun, um so den Beginn des Laufs der Verjährung bei missbräuchlichen Klauseln ins Unendliche hinausschieben. Diese allein der Trägheit, Untätigkeit und Lethargie des Verbrauchers geschuldete Unendlichkeitsverjährung könnte wiederum nach Auffassung des EuGH wohl nur dann unterbrochen bzw. vermieden werden, wenn der Verwender der unwirksamen Klausel eigeninitiativ auf den Verbraucher zugeht, ihn über die Unwirksamkeit der Klausel informiert und damit „bösgläubig“ macht, ein Ergebnis, was nicht nur haarsträubend ist, sondern auch mit den aktuellen deutschen Verjährungsregelungen und der hierzu ergangenen Rechtsprechung unvereinbar ist.

Ob der Bundesgerichtshof diese auf dem europäischen Effektivitätsgrundsatz beruhende und mit den deutschen Verjährungsregelungen nicht zu vereinbarende Rechtsauffassung des EuGH zum Verjährungsrecht im Wege der europarechtskonformen Auslegung uneingeschränkt auf das deutsche Recht übertragen wird, bleibt mit Spannung abzuwarten. Es erscheint jedoch kaum vorstellbar, dass der BGH eine Meinung mit den deutschen Verjährungsregelungen als vereinbar ansieht, nach welcher ein Verbraucher seinen auf eine unwirksame Klausel gestützten Rückforderungsanspruch so lange geltend machen kann, bis der Verwender der unwirksamen Klausel ihn, den Verbraucher, über die Unwirksamkeit der Klausel informiert. Eine solche Sichtweise wäre im Übrigen nach hiesiger Meinung mit dem klaren und unmissverständlichen Wortlaut des § 199 Abs. 1 BGB unvereinbar, welcher den Beginn des Laufs der dreijährigen Verjährungsfrist allein davon abhängig macht, dass der Verbraucher Kenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen hat oder grob fahrlässig nicht hat. Erst recht hängt der Beginn der Verjährung nach den deutschen Regelungen nicht davon ab, dass der AGB-Verwender den Verbraucher über die Nichtigkeit der Klausel informiert; eine Pflicht, die es nach deutschem Recht bisher auch nicht gibt. Eine solche Sichtweise wäre darüber hinaus auch mit dem Wortlaut des § 199 Abs. 4 BGB unvereinbar, nach welchem der Beginn des Laufs der zehnjährigen Verjährungsfrist keinerlei Kenntnis erfordert. Die vom EuGH vertretene Sichtweise wäre schließlich auch mit dem fundamentalen Grundsatz der Rechtssicherheit im deutschen Recht sowie der Vorgabe des Gesetzgebers, ab einem gewissen Zeitpunkt Rechtsfrieden eintreten zu lassen, unvereinbar (vgl. hierzu BT-Drucksache 14/6040 S. 96, wo ausgeführt wird, dass ab einem Zeitpunkt der Schuldner darauf vertrauen können muss, dass der Gläubiger nicht mehr auf seine Forderung zugreifen kann und dass das Verjährungsrecht Rechtssicherheit i. S. d. Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit gewährleisten muss; zur Rechtssicherheit und zum Rechtsfrieden vgl. auch S. 100 Mugdan, die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Recht, Band I, 1899, §§ 164, 165 BGB, S. 526 Rn. 317; zur Unvereinbarkeit der vom EuGH aufgestellten Grundsätze zum Beginn des Laufs der Verjährung mit den deutschen Verjährungsregelungen vgl. Freise, juris PR-BKR 3-2023, Anm. 1; Herresthal, ZHR 2022, 373, 407 ff.; Edelmann/Schultheiß/Weil, BB 2022, 1548, 1550 f. vgl. hierzu auch Fademrecht, WM 2023, 1210 ff.; Grigoleit, WM 2023, 749 ff.; Schmidt, IWRZ 2022, 10, 14).

Es ist auch nicht zu erwarten, dass der Bundesgerichtshof vorstehende EuGH-Entscheidung im Rahmen einer richtlinienkonformen Auslegung über den von ihm für den Verjährungsbeginn entwickelten maßgeblichen Grundsatz der „Zumutbarkeit der Klageerhebung" vollständig miteinfließen lassen wird. Denn dann würde der Bundesgerichtshof über die ohnehin als Ausnahme vom Grundsatz anzusehende „Zumutbarkeitsschranke" die deutschen Verjährungsregelungen vollständig aushebeln und umgehen.

Jedenfalls wird sich anhand vorstehender EuGH-Entscheidung zeigen, ob man sich auch zukünftig noch auf die Maßgeblichkeit klarer deutscher Gesetze, Vorgaben und anerkannter Grundsätze verlassen kann oder ob der EuGH sich „nach Lust und Laune“ als vermeintlich übergeordnete verbraucherschützende Instanz über klare nationale gesetzliche Regelungen unter Berufung auf den diffusen und völlig unbestimmten Rechtsbegriff des Effektivitätsgrundsatzes hinwegsetzen kann/darf mit der Folge, dass nationale (deutsche) gesetzliche Vorschriften das Papier nicht mehr wert sind, auf welche sie geschrieben sind; und dies auch noch in einem Bereich, in welchem mangels spezifischer Vorschriften des Unionsrechts die Modalitäten der Umsetzung des in der Richtlinie vorgesehenen Verbraucherschutzes nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten allein Sache der innerstaatlichen nationalen Rechtsordnungen ist (so EuGH, a. a. O., Rn. 42–45).


Beitragsnummer: 22510

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